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Die Botschafter des Chasselas

11 novembre 2022

Sie trinken alles ausser Chasselas? Dann lesen Sie weiter! Diese zwei Persönlichkeiten rücken die Sorte in ein ganz neues Licht.

Die Zukunft des Chasselas steht in Mont-sur-Rolle hoch über dem Genfersee und lässt sich vom Wind die Frisur zerpuscheln. Nein, die Rede ist nicht von Winzerin Laura Paccot, mit der wir an diesem sonnigen Morgen hier sind, sondern von ihren Schützlingen. Darunter ein Chasselas-Klon namens Cioutat – so sagt es das Namensschild, das am Kopf der Rebzeile im Boden steckt. Er hat ganz zarte, fedrige Blätter, die in der Morgenbrise rascheln. «Sehen Sie? Jede Pflanze sieht anders aus. Diese hier hat rotes Holz. Diese hier rosafarbene Beeren. Und diese hier hat völlig andere Blätter als der Rest.» Auf den Schiefertafeln liest man Namen wie Rose royal, Jaune ciré, Violet oder Rose parfumé. Das Stück Land, auf dem wir stehen, ist mehr als ein Rebberg. Es ist das 2ème Conservatoire Mondial du Chasselas, und Laura Paccot ist seine Hüterin.

Die Geschichte fing eigentlich vor hundert Jahren an. Damals begann die Rebenforschungsstation in Lausanne mit der Klonselektion für den Chasselas. Zuvor hatte in den Rebbergen ein buntes Durcheinander genetisch unterschiedlicher Stöcke geherrscht. Das sollte sich mit dem Klonen ändern: Durch gezieltes Vermehren besonders vielversprechender Exemplare einer Sorte hoffte man die Weinqualität zu sichern. Aus 40 Kandidaten wählten die Agronomen schließlich drei Gewinner aus. Diese Chasselas-Klone bevölkerten fortan den Großteil der Schweizer Rebberge. Ihre Vorzüge: Sie waren frei von Viruskrankheiten und garantierten einen gleichmäßigen Ertrag – beides hatte in jener Zeit, als sich Europa gerade von der Reblausplage erholte, oberste Priorität. Unter den dreien gewann nach einem verheerenden Frost im Winter 1956 der Fendant roux die Oberhand. Doch die Zeiten änderten sich. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts boosteten Mineraldünger die Bodenfruchtbarkeit, und immer mehr Winzer stellten ihre Reben von der Buschform auf die ertragsstärkere Drahterziehung um. Was mit den Erträgen der ohnehin schon hochproduktiven Chasselas-Klone passierte, kann man sich denken: Sie schossen durch die Decke. Und die Weinqualität? Nun ja. Und hier nimmt die Geschichte Fahrt auf. Das Qualitätsproblem des Chasselas blieb Agroscope, dem Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung, nicht verborgen. Also deklarierte man eine Mission: In den 1970er und 1980er Jahren sowie erneut zwischen 2011 und 2013 suchten die Forscher in der Schweiz und im Ausland nach Chasselas-Stöcken aus der Vor-Klon-Ära. Die Ausbeute war gigantisch: Heute verfügt Agroscope über eine Sammlung von 381 Chasselas-Varianten!

Und da schliesst sich nun der Kreis: 2008 pflanzte die Forschungsanstalt Changins zusammen mit Louis-Philippe Bovard, dem Grandseigneur des Waadtländer Weinbaus, 17 Biotypen in den Bovard’schen Rebbergen in Rivaz im Lavaux aus. Es handelt sich um repräsentative Vertreter je einer bestimmten Ausprägung des Chasselas, de »niert etwa durch die Farbe der Beeren oder des Holzes. Voilà, das Conservatoire du Chasselas war geboren! 2017 erhielt das Conservatoire dann einen Zwilling in Mont-sur-Rolle – jenen Rebberg, in dem wir nun mit Laura Paccot stehen. In einem anderen Terroir wachsen dort dieselben 17 Biotypen wie in Rivaz, plus 50 weitere Varianten. «Was wir möchten», sagt Laura, «ist die Erhaltung der genetischen Vielfalt dieser Sorte.»

Und Mann, kann man diese Vielfalt schmecken! Im Keller stellt uns die Winzerin fünf Flaschen auf den Tisch. Sie kommen nicht in den Verkauf, tragen aber dennoch Etiketten: Fendant roux, Fendant vert, Bois rouges, Giclet, Blanchette. Alles Chasselas – aber was für eine Stilbreite! Den Fendant roux, den Ersten in der Reihe, erkennt man mit geschlossenen Augen: Das ist unsere Schweizer Nationaltraube, wie wir sie gewohnt sind. Der Giclet hingegen überrascht mit seiner rassigen Säure und superstraighten Art. Der Bois rouges ist würzig und strukturiert, die Blanchette charmant, subtil, blumig. Ein bisschen schwer wirkt der Fendant vert. Laura lacht: «Der hat Louis-Philippe Bovard und uns auch nicht überzeugt.» Die Unterschiede sind absolut frappierend. Ein Gast, der eigentlich vorbeigekommen ist, um Wein abzuholen, und sich unversehens mitten in der Degustation wiederfindet, ist sichtlich verwirrt. «Ich mag den Ersten», sagt er mehrmals, «die anderen sind für mich kein Chasselas.»

Ziel ist es übrigens nicht, die Typen getrennt auf den Markt zu bringen. «Das Interessante ist ja gerade das Potenzial, das sie zusammen entwickeln.» sagt Laura. Ihr Vater Raymond Paccot war unter den Pionieren der Biodynamie in der Schweiz, und beide glauben vor allem ans Terroir, «viel mehr als an die Rebsorte». Ihre Parzelle Curzilles etwa ist im gemischten Satz mit diversesten Weissweintrauben bepflanzt, für die Chasselas-Biotypen stellen sie sich eine ähnliche Zukunft vor. Und auch sonst sind die Paccots überaus experimentierfreudig. Laura keltert zum Beispiel einen Chasselas mit Maischestandzeit sowie einen Pét Nat. Vielfalt eben, in jeder Hinsicht.

Mit den Paccots haben wir einen Blick in die mögliche Zukunft des Chasselas getan. Mit Jérôme Aké Béda reisen wir in die Vergangenheit. Der Sommelier mit Wurzeln an der Elfenbeinküste ist einer der grössten Kenner und leidenschaftlichsten Botschafter des Chasselas. Was er vor vielen anderen verstanden hat, ist: Chasselas muss reifen. Das will er uns jetzt demonstrieren. Wir sind im Keller der Auberge de l’Onde in Saint-Saphorin am Fusse der Rebterrassen des Lavaux – genauer gesagt in einem der vielen Kellerräume. «Die guten Flaschen habe ich überall im Haus versteckt», sagt Jérôme, der hier seit 17 Jahren wirkt, und kramt hinter gelben Wasserkisten. Es geht das Gerücht um, die besten Tropfen bekämen nicht alle Gäste zu sehen. Aber das stimmt so nicht. «Ein Gast muss sein Interesse zu erkennen geben. Wenn jemand nur schnell zu Mittag essen will, hole ich natürlich keine raren Schätze aus dem Keller. Aber wenn jemand gezielt danach fragt, tue ich das noch so gern.» Tatsächlich ist die Auberge de l’Onde ein charmanter Zwitter zwischen einfachem Wirtshaus, wo am Nebentisch Schnitzel und Pommes frites gegessen werden, und Gourmetlokal. Und Letzteres beschert uns einige der umwerfendsten Chasselas-Momente, die wir je erleben durften. Etwa einen Dézaley Renard von Pinget zum knusprig panierten wachsweichen Ei mit Artischockencrème und Sommertrüffel – der Wein schneidet messerscharf durch das cremige Eigelb, und seine nussigen Noten umgarnen den Trüffel. Oder der La Médinette 2003 von Bovard, ebenfalls aus dem Dézaley, zum gebratenen Maigre-Filet mit Fenchel und Krustentiercrème – eine Kombination voller Schmelz und Sinnlichkeit. Den reifen Bovard serviert Jérôme Aké im Burgunderglas, denn: «Ein gereifter Chasselas, vor allem, wenn er mit Kork verschlossen war, erinnert tatsächlich an einen grossen Burgunder. Das verdient ein Glas, in dem er sich entfalten kann.» Überhaupt findet er: «Chasselas kann einfach alles.» Wir müssen nicht mehr überzeugt werden.

Text: Britta Wiegelmann
Bilder: Felix Groteloh

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